Bis ans Ende von Europa

Zusammen sind Fahrer, Beifahrer und Auto mehr als 200 Jahre alt. Marathon-Strecken sind da eine Herausforderung für Mensch und Maschine. Trotzdem lockte Gustav, Hans und Valiant der Trip bis zum […]

Zusammen sind Fahrer, Beifahrer und Auto mehr als 200 Jahre alt. Marathon-Strecken sind da eine Herausforderung für Mensch und Maschine. Trotzdem lockte Gustav, Hans und Valiant der Trip bis zum Nordkap, quasi die letzte Ausfahrt vorm Nordpol. Mehr als 12’000 Kilometer in 52 Tagen durch 14 Länder – Chapeau!

Text Hans Treml | Fotos Gustav Erne

Roadtrip Rauma kommuneAlles begann mit der Idee einer Abenteuerreise. Wie zum Beispiel Peking–Paris. Mein Freund Gustav und ich – beide autoaffin, reisebelastbar und in China und der Mongolei ortskundig – wollten an der Challenge teilnehmen, die auf die legendäre Rallye zurückgeht. Wir meinten sogar, das passende Fahrzeug zu haben: Gustavs 1961er Chrysler Valiant, seit 35 Jahren aufgebockt in einer Tiefgarage. Kein Auto für den Concours, aber ein Kandidat für Staub und Dreck. Leider eine Baustelle wie sich herausstellte. Wagen nicht fahrbar, Transport- und Teilnehmerkosten hoch, plus mangelnde Ferienzeit – wir legten das Thema zu den Akten.

Neues Jahr, neuer Versuch. Wie wäre es mit der «Road-to-Hanoi-Rallye»? Wäre interessant gewesen, wäre nicht Corona gekommen. Gustav suchte weiter und hatte im Frühjahr 2024 Plan drei parat: «nur» ans Nordkap. Aber nicht auf direktem Weg, der 3600 Kilometer betragen hätte, sondern über eine 12’000 Kilometer lange Route für 52 Tage – damit wir Zeit hätten für Sightseeing. «Wenn wir es jetzt nicht machen, machen wir es nie», lockte er. Wohlwissend, dass ich selten eine «Jetzt oder nie»-Gelegenheit ausschlage.

GEFAHREN LAUERN ÜBERALL

Roadtrip StrandBei der Garage Schweizer in Egg bei Zürich erwies sich die «Valiant-Baustelle» dann als harmloser als gedacht. Abgesehen vom grossen Service wurden dem Wagen nur zwei komfortable Einzelsitze anstelle der originalen Sitz-, oder besser gesagt Strafbank verpasst. Wobei der Rest-Komfort ebenfalls überschaubar blieb. Das merkten wir schnell, nachdem am 16. Mai 2024 für den Chrysler vollbepackt mit Benzinkanister, Werkzeugen und Reisetaschen der Startschuss gefallen war. Schliesslich ist der erste Gang nicht synchronisiert und nur zum Anfahren. Damit bleiben lediglich zwei Gänge, was im Stadtverkehr, zwischen Baustellen und in Staus viel Konzentration erfordert. Die Trommelbremsen lassen das Auto bei Regen mal nach rechts, mal nach links ausbrechen. Die Lenkung ohne Servo braucht viel Muskelkraft, der Wendekreis beträgt stattliche 14 Meter, die Heizung funktioniert nicht, Radio gibt es nicht. Da Singen nicht unser Ding ist, blieb uns nur noch das Unterhalten über Gott, die Welt und nicht selten Blödeleien.

 

Dass die Reise beinahe schon nach 100 Kilometern zu Ende war, konnten wir aber nicht dem Auto anlasten. Beim ersten Stopp in Vaduz stolperte Gustav auf einem Trottoir und zerfetzte nicht nur seine neue Sporthose, sondern schlug sich noch die Knie blutig. Zum Glück liess sich die Verletzung in der nächsten Apotheke verarzten. Doch der Vorfall war uns eine Warnung: Gefahren lauern überall.

AUF NEUEN WEGEN

Am Tag zwei ging es in Richtung Norden nach Passau und Pilsen – wunderschöne Städte mit historischer Architektur. Dass in Pilsen das Bier besonders gut schmeckte, versteht sich von selbst. Genauso gut haben uns aber die nächste Station Brünn und das benachbarte Städtchen Vyskov gefallen, in dem wir ein Open-Air-Flieger Museum mit zahlreichen unrestaurierten Flugzeugen russischer Herkunft und Relikten deutscher Kriegsflugzeuge entdeckten. Nach einem Schlenker durch die Slowakei mit Übernachtung in Zilina kamen wir in Zakopane im Tatragebirge an – eine Art polnisches Gstaad, bekannt für seine Sprungschanzen, aber auch im Sommer von Schönen und Reichen frequentiert. So kamen wir im uns unbekannten Polen an. Wir lernten es über die Stationen Krakau, Warschau und Danzig und, als Umweg wegen der gesperrten russischen Exklave Kaliningrad, quer durch die wunderbaren Landschaften von Mazury (Masuren) und Suwalki (Suwalken) im obersten Norden kennen. Die sogenannte Suwalki-Lücke von 65 Kilometern Breite ist die einzige Verbindung zwischen NATO- Gebiet und den baltischen Staaten und damit politisch brisant.

Die Zahl an Museen, Kathedralen und historischen Stätten war überwältigend, die lokale Küche (Pirogi!) gut und das Kulturangebot riesig: Sollte man in Warschau eher ein Chopin-Konzert besuchen oder lieber ein kleines, feines Wodka-Museum? Wir beschlossen spontan, dass Chopin auch auf CD ganz gut klingt … Danzig war rückblickend eines der schönsten Etappenziele überhaupt. Eine Stadt voller Geschichte mit einem hervorragenden Museum über Widerstand und die Gewerkschaft Solidarnosc sowie einem weiteren Museum über Polens Schicksal im Zweiten Weltkrieg.

EXOT MIT EIGENLEBEN

Mehr als 2500 Kilometer hatten wir bis dahin zurückgelegt. Doch schon am zweiten Reisetag festgestellt, dass der Valiant ein Eigenleben führte. Klopfgeräusche aus dem Armaturenbrett stellten uns vor ein Rätsel. Kamen sie aus dem Motorraum? Von der Belüftung? Einem Poltergeist? Warum hörten sie auf, wann immer die Kupplung bedient wurde? Dazu blieben die Scheibenwischer senkrecht stehen, wenn sie ausgeschaltet wurden, die Zündung arbeitete ungleichmässig und die Kupplung machte hässliche Geräusche – vermutlich war eine Feder gebrochen oder das Lager defekt. Dann vergassen wir einmal den Tankdeckel und mussten mit dem Plastikdeckel eines Kaffeebechers und Klebeband vorliebnehmen. Eddie Schacher, Präsident des Valiant-Clubs, verfolgte unsere Reise und schickte Ersatz aus der Schweiz.

Das Irrste: Jedes Mal, wenn das Lenkrad bei niedriger Fahrgeschwindigkeit gedreht wurde, gab das Auto ein Hupgeräusch von sich. Die peinliche Folge davon waren verwirrte Vordermänner, erschrockene Fussgänger und junge Frauen, die sich angemacht fühlten und entsprechend empört reagierten. Fast eine Art «Verstehen Sie Spass?», aber ohne Kamera. Gustav mit der Hupe kam mir noch in den Sinn, die Figur aus Erich Kästners Buch «Emil und die Detektive». Die Marotten des Valiants sollten uns bis zum Ende der Reise begleiten und waren der Grund, dass wir die Ankunft an jedem Zwischenziel mit einem High-Five feierten.

Roadtrip skandinavische Strassen

Während wir in Liechtenstein, Österreich, Tschechien und in der Slowakei auf kurvigen Strassen unterwegs waren, erschienen sie uns in Polen und später in Skandinavien wie mit dem Lineal gezeichnet – geradeaus bis zum Horizont, gesäumt von Feldern ohne Bäume oder Häuser. Nur der eine oder andere Storch stand am Strassenrand und liess sich vom Sechszylinder-Schnurren nicht aus der Ruhe bringen. Dafür erregten wir mit dem Wagen viel Aufmerksamkeit. Während der Valiant in der Schweiz der 1960er-Jahre eine relativ häufige Erscheinung war – die AMAG hat 14’000 in Schinznach montiert, davon 996 Exemplare im Jahr 1961 –, war man den Anblick der Limousine mit dem angedeuteten Ersatzrad auf dem Kofferraumdeckel im Osten nicht gewohnt. Immer wieder wurden wir fotografiert, angesprochen oder mit erhobenem Daumen gegrüsst. Durchwegs positive Reaktionen erlebten wir – solange wir nicht unfreiwillig hupten.

HERZLICHE HILFSBEREITSCHAFT

Roadtrip Reparatur im BaltkumDie baltischen Staaten Litauen, Lettland und Estland werden oft in einem Atemzug erwähnt, dabei haben alle ihren eigenen Charakter. Mit der Fähre gelangten wir zur Kurischen Nehrung, die zum UNESCO-Welterbe gehört. Eine schmale Landenge mit hohen Sanddünen, die sich parallel zur Festlandküste bis nach Russland erstreckt. Der Wegweiser nach Kaliningrad steht noch, aber 300 Meter vor der Grenze war die Strasse gesperrt. Abgeriegelt war ausnahmsweise auch die litauische Hauptstadt Vilnius, wo gefühlt die halbe Bevölkerung an einem Volksmarathon teilnahm. Über das estnische Riga ging es entlang der Küste nach Estland und dort zuerst nach Pärnu, ein Seebad mit langer Geschichte, das einst als der westlichste Ferienort von russischen Touristen geschätzt wurde. Dort ereilte uns das Schicksal, das wir befürchtet, ja fast erwartet hatten: Nach einer kurzen Pause sprang der Motor nicht mehr an. Keine Zündung, kein Ton. Vergeblich versuchten wir, das tonnenschwere Vehikel anzuschieben. Doch auf einmal waren fünf Rentner da, die ihren Kaffeetisch verliessen, um zu helfen. Mit Erfolg! Der Motor sprang widerwillig an, und wir schafften es zum nahe gelegenen Hotel.

 

Dort angekommen, telefonierte sich die Dame am Empfang quer durch die lokale Werkstattbranche und konnte innert kurzer Zeit einen Mechaniker aufbieten, der mit einem Ladegerät herbeieilte, den Valiant provisorisch wieder zum Laufen brachte und uns zu einem Spezialisten führte, der das Problem erkannte. Der Voltage-Regulator war defekt, eine kleine schwarze Metalldose im Motorraum. Der Spezialist lötete die Drähte um und die Batterie konnte sich so wieder aufladen. Doch er warnte uns, dass die Reparatur nur notdürftig sei und wir Ersatz bräuchten. Absolut unglaublich: Den fanden wir kurz darauf als Originalteil in einer auf US-Cars spezialisierten Garage in Tallinn. So wurde eine ärgerliche Panne völlig unerwartet zu einer schönen Begegnung mit vielen herzlichen und spontan hilfsbereiten Menschen des Baltikums.

MODERNE KAP-NOMADEN

Die Fähre von Tallinn nach Helsinki legte die 88 Kilometer in etwas mehr als zwei Stunden zurück. Von dort aus ging es nur noch Richtung Norden, Norden, Norden. Überall wurde vor Elchen gewarnt, aber die Strassen sind durch Zäune und Gräben gut geschützt, und nur einmal begegneten wir einem Rentier, friedlich neben der Strasse. Im finnischen Rovaniemi, der Hauptstadt Lapplands, überquerten wir den Polarkreis – bei hochsommerlichen Temperaturen. Diese begleiteten uns beim Abstecher zum schwedischen Lulea am Bottnischen Meerbusen bis nach Hammerfest. Die nördlichste Stadt Norwegens mit der nördlichsten Kirche Europas und, ja, dem nördlichsten chinesischen Restaurant. Die Tage waren übrigens sehr lang, die sogenannten «Weissen Nächte» der Mittsommernacht liessen die Sonne fast nie untergehen.

Roadtrip Beitragsbild Arctic

Am zunehmenden Verkehr von Wohnmobilen merkte man es: Wir näherten uns dem Nordkap. Rund achtzig Prozent der Strassennutzer waren moderne Campingnomaden aus ganz Europa. Das Campingfeld vor dem Kap sah allerdings nicht romantisch aus: Wagen an Wagen, kaum Platz dazwischen. Es wehte ein eisiger Wind, der das Gesicht einzufrieren drohte. Am 9. Juni erreichten wir das Ziel unserer Reise und machten die obligaten Fotos zum Beweis, dass wir dort gewesen waren. Auf dem Parkplatz klopfte ein Schweizer an unser Fenster und meinte: «Ich gratuliere euch zu eurem Mut, mit diesem Auto bis hierher zu fahren!» Was er wohl eigentlich sagen wollte: Wie verrückt seid ihr denn bitte?

TRAUMHAFTE NORWEGISCHE KÜSTE

Den Rückweg genossen wir entlang der norwegischen Küste, gespickt mit Fjorden, Passstrassen, Brücken und Hunderten von 100 Meter bis neun Kilometer langen Tunnels – teilweise 250 Meter unter Meeresboden! Und gab es keine Strasse, dann wartete eine Fähre – am Ende sollten es bis nach Dänemark vierzehn Stück
werden. Einzelne Fjorde waren durch die Schiffe der Hurtigruten oder grösseren Ozeanschiffe von Touristen in Beschlag genommen – allen voran der bekannte Fjord Geiranger. Da fiel mir das Lied «Du bist nicht allein» von Roy Black ein. Wir hatten nicht geahnt, dass der Norden 2024 ein beliebtes Ferienziel sein würde. Verdenken konnte man es niemandem angesichts der Schönheit der unberührten Landschaften und umwerfenden Aussichten, die trotz ihrer Rauheit bestens mit dem Auto zu erreichen sind. Wie beispielsweise die dem Festland vorgelagerten Lofoten mit grünen Wiesen, spitzen Bergen und schönen Stränden.

Die Trollstigen, eine Passstrasse mit elf engen Spitzkehren ist eine Herausforderung für Wohnmobil- und Wohnwagenfahrer – sofern sie überhaupt durchgelassen werden: Vor dem Anstieg gibt es eine Kontrolle, um Staus zu verhindern. Leider wurde uns der Weg versperrt, weil ein Bergsturz die Strasse unbefahrbar gemacht hatte. Das erforderte einen Umweg von hundert Kilometern um den Fjord. Immerhin erreichten wir die Passhöhe am nächsten Tag von der anderen Seite. Einmalig! So müssen einige Schweizer Pässe bis in die 1960er-Jahre ausgesehen haben! Bergen, Stavanger, Arendal bis Oslo – mittlerweile hatten wir mehr als zehntausend Kilometer zurückgelegt. Der Valiant blieb zickig, aber fuhr ohne Panne. Von Göteborg ging es per Fähre nach Dänemark.

HINTERM ZIEL IST VOR DEM ZIEL

Roadtrip Karte alle ReisezieleIn Dänemark – gefühlt fast zu Hause nach so vielen Kilometern – blieben wir Küstenfans und fuhren von der Nordspitze in Skagen und die Westküste mit ihrer Dünenlandschaft entlang Richtung Esbjerg. In der Fischerstadt Thyboroen besuchten wir das Museum über die Seeschlacht am Skagerrak aus dem Ersten Weltkrieg und bestaunten den kilometerlangen Sandstrand. Sylt war uns eine letzte Fähre wert, statt die Autoverladung über den Hindenburgdamm zu nehmen. Letzter Höhepunkt der
Reise war Hamburg, wo wir dem Automuseum Prototyp, der Elbphilharmonie und dem Airbus-Werk einen Besuch abstatteten. Die Autobahn nach Basel mit ihren Staus zur Ferienzeit ersparten wir uns und wählten den kommoden Nachtzug von Altona nach Lörrach.

Auf der Fahrt nach Hause zeigte der Kilometerzähler fünfmal die Acht, die Glückszahl in Asien, womit sich für uns ein Kreis schloss, auch wenn es mit den Asien-Rallyes nicht hatte klappen wollen. Auf der Aarebrücke unter der Habsburg erreichten wir unser Marathonziel von 12’000 Kilometern nach 52 Reisetagen. Ja, das Glück war auf unserer Seite, der 63-jährige Chrysler Valiant hielt trotz Sperenzchen durch, der Motor bestätigte seinen Ruf als «unkaputtbar». Um dessen Technik waren Familie
und Freunde aber weniger besorgt als um unsere Nerven. «Habt ihr es gut miteinander ausgehalten?», wollten alle nach der Ankunft wissen. Die kurze Antwort: Wir planen schon unsere nächste Abenteuerreise.