Stuttgarter Adel

Viel mehr als ein Mercedes-Benz S-Klasse-Cabrio konnte man sich in den 1960er-Jahren kaum wünschen. Feinster Automobilbau, der mit der Einführung des neuen V8-Motors 1969 seine Vollendung im 280 SE 3.5 fand

Mercedes-Benz 280 SE 3.5 (W111)

Viel mehr als ein Mercedes-Benz S-Klasse-Cabrio konnte man sich in den 1960er-Jahren kaum wünschen. Feinster Automobilbau, der mit der Einführung des neuen V8-Motors 1969 seine Vollendung im 280 SE 3.5 fand

Text und Fotos: Ulrich Safferling

Mehr ging nicht – oder kaum. In den goldenen 60er-Jahren des Wirtschaftswunders war ein S-Klasse-Cabrio schon der Gipfel der automobilen Herrlichkeit. Klar, der 600er und der 300 SEL 6.3 waren noch etwas teurer. Aber seien wir ehrlich, wer fuhr schon 600er ausser Tito und Herbert von Karajan? Und der 6.3 war dann doch eher etwas für Technik-Geniesser. Stil, Eleganz und Sonnenschein satt gab es nur im W 111-Cabrio, das teurer war als das Coupé.

Damals nur 2.000 DM, heute ein paar zehntausend Euro. Denn viele Cabrios gab es nicht und angesichts der aktuellen Preise dürften die sich auch heute in Grenzen halten. Wer aber darüber nachdenkt, sollte sich vor dem Einstieg an der einzigartigen Qualität laben. Hier steht noch ein Mercedes-Benz. Punkt. Ein unglaublich solides Stück Technik. Und wer sich das Vergnügen gönnt, alle Türen und Hauben und Klappen einmal zu öffnen, stellt fest – alles ist schwer. Nein, nicht schwergängig, sondern massiv. Das berühmte satte Geräusch, wenn die Tür zufällt. Der Kofferraumdeckel einschnappt, die Motorhaube verriegelt. Selbst der Handschuhfachdeckel ist so massiv gearbeitet, als würde man einen kleinen Tresor öffnen und schliessen. Es ist wunderbar.

Auch das Verdeck sitzt straff und macht einen soliden Eindruck. Heruntergeklappt liegt es schön flach auf, dass Plastikfenster und Persenning nicht höchsten und neumodischen Ansprüchen genügt, muss verziehen werden – das war damals State of the Art.

Aber man nehme doch erst einmal Platz und falle in die breiten Ledersitze – und versinke. Sie schaffen den Spagat zwischen «Noch-Halt-und-maximal-Komfort». Wobei Haltungsnoten in Kurvenfahrten nicht gefragt sind, sondern die Auflagefläche gemeint ist. Die ist schon sehr komfortabel und wer immer noch meint, die 200 PS unter der Haube sollten in der nächsten Kurve unter Beweis gestellt werden, hat das ganze Auto nicht begriffen. Und wer das Luxus-Cabrio als Gleiter dann doch noch versteht, relativiert auch seine Vorstellung von dem Seitenhalt.

Es gibt nicht nur Ellbogenfreiheit und eine Mittelarmlehne, sondern auch die Beine müssen nicht eng angelegt werden. Dann steht die Bestuhlung allerdings recht weit hinten und die Beinfreiheit hinten geht Richtung null. Erstaunlich, dass ein fast fünf Meter langes Cabrio dann doch so knapp geschnitten ist. Aber vermutlich wollte der Wirtschaftswunder-Kapitän ungestört nur mit der Liebsten fahren.

Da war die Rückbank dann nur eine Ablagefläche fürs kleine Gepäck, während im Kofferraum noch ausreichend Platz für mehr als nur einen Wochenendtrip blieb. Zwar steht das Ersatzrad etwas ungünstig und ragt in die Ladezone hinein, aber die Tiefe des Raumes bis unter den Verdeckkasten erlaubt doch noch eine gewisse Grosszügigkeit. Die bei längerfristigen Beziehungen auch noch das Spielzeug der Kinder zu schlucken vermochte.

Grosszügig ist ebenfalls das Stichwort beim Anblick des Cockpits. Chrom und Holz spiegeln um die Wette, ein fürstlicher Anblick. Tourenzähler und Tacho dominieren hinter dem grossen, aber dünnen Lenkrad. Dazwischen reckt sich kühn und fast modernistisch eine Hochkant-Anzeige für die notwendigen Zeiger-Instrumente wie für Tankstand und Temperatur.

In der Mittelkonsole tummeln sich Lüfterhebel, ein Becker-Radio samt Uhr plus eine Klimaanlage, die damals so weit vom normalen Autofahrer entfernt war wie der Neptun von der Sonne. Ab Werk wurden Behr-Anlagen verbaut und optisch passend integriert. In den USA wurden Anlagen von Kühlmeister nachgerüstet, was nicht ganz so stimmig zum Oberklasse-Cockpit passte.

Ein sehr hübsches Detail ist die kleine Leseleuchte im Handschuhfach, die aufleuchtet, sobald man den Deckel öffnet, er nach unten klappt und so optimal die Karte beleuchten kann, die der Beifahrer oder die Beifahrerin auf den Knien hält. Im Handschuhfach findet sich ausserdem eine kleine Lederhülle mit zwei Chromhaken, mit denen sich das Verdeck wieder schliessen lässt. Ein kleiner Arbeitsvorgang, der am besten zu zweit erledigt wird. Nur ein 3.5er-Exemplar wurde mit hydraulischem Verdeck ausgeliefert, alle anderen brauchten ihre Fingerfertigkeit.

Das Prachtstück in dieser extravaganten Hülle ist der Achtzylinder mit 3,5-Litern Hubraum, der 1969 auf den Markt kam. Gleichzeitig wurde die Kühlermaske breiter und niedriger – der sogenannte Flachkühler war geboren und machte die Vorgänger-Serie zum «Hochkühler». Nach den Reihensechszylindern 250 SE ab 1965 und 280 SE ab 1969 war der V8 die letzte Evolutionsstufe in der zehnjährigen Bauzeit von Coupé und Cabrio: 200 PS und endlich mehr als 200 km/h adelten das Cabrio zum Schluss.

Ein leichter Dreh am Zündschlüssel und schon brummt der 3,5-Liter sonor los – anders lässt sich die souveräne Kraftentfaltung nicht beschreiben, die dann für erhabene Fahrleistung sorgt. Und einem die Angst nimmt, an der Ampel, am Berg oder beim Überholen nicht genug Überholprestige zu haben. Dass dafür schon mal 20 Liter pro 200 Kilometer aufgerufen werden, muss man im Kontext der Zeit lesen – das war gar nicht schlecht.

 

Gleiches gilt für den Zustand unseres Fotomodells. Wobei «gar nicht schlecht» natürlich masslos untertrieben ist. Bei diesem silbergrauen 280 SE 3.5 aus dem letzten Baujahr 1971 handelt es sich um eine aussergewöhnliche Werksrestaurierung. Ziel: den Auslieferungszustand in jedem Detail herzustellen, quasi das Fahrzeug neu erschaffen. Das muss man glauben beim Anblick der Ersatzteilliste, die mehr als 600 Positionen umfasst. Vom Bodenblech bis zu acht Kolben, Kerzen und Zündkabeln, von unzähligen Gummipuffern bis zum «Lagerfett grün», von dem satte 300 Gramm verbraucht wurden. Es ist wirklich fast alles neu und mit aktuell 150 Kilometern Laufleistung wird es etwas dauern, bevor man von Patina sprechen kann. Restauriert wurde vom Werk – nicht im Werk – in «Concours Edition». Sprich es dürfte jeder Jury schwerfallen, an diesem neuen Oldtimer mehr als ein Stäubchen aus dem Showroom zu finden. Und: Es ist einer von nur 1.232, was ihn noch begehrter macht. Ein Benz aus der guten alten Zeit, auch wenn damals nicht alles gut war. Aber das betrifft nur die anderen.

Mercedes-Benz 280 SE 3.5 (W111)

Baujahr: 1969-1971
Motor: 3499 ccm, V8, Bosch-Einspritzung
Leistung: 200 PS bei 5800 U/min
Drehmoment: 292 Nm bei 4000 U/min
Kraftübertragung: manuelles Vierganggetriebe, Hinterradantrieb
Länge/Breite/Höhe: 4905 x 1845 x 1420 mm
Gewicht: 1710 kg
Verbrauch: ca. 18,5 l/100 Km
Höchstgeschwindigkeit: 210 km/h
Beschleunigung: 10,0 s von 0-100 km/h
Produktion: 1232
Preis: k.A.